Judith Butlers
Adornopreis-Rede
Michael Seibel • Das richtige Leben im falschen? (Last Update: 24.02.2014)
Nachdem wir uns über Emmanuel
Lévinas Aussage aus 'Totalität und Unendlichkeit': »Das
wahre Leben ist abwesend.« unterhalten haben, haben wir uns auf die Rede von Judith Butler anlässlich der Verleihung
des Adorno Preises hinweisen lassen, in dem sie auch auf die einschlägige
Behauptung Adornos eingeht „Es
gibt kein
richtiges Leben im falschen“.
Er Aufsatz ist
wirklich eine Besprechung wert. Ihre Frage:
„Wie
können wir unser eigenes Leben so führen, so dass wir sagen
können, wir führen ein gutes Leben in einer Welt, die
vielen ein gutes Leben strukturell oder systematisch unmöglich
macht?“
Zurück gebunden
an Harry Frankfurt: Können eigentlich nur Ignoranten mit sich im
Einklang sein oder geht das auch, wenn man die Augen nicht vor dem
verschließt, was uns umgibt?
Judith
Butlers Adornopreis-Rede. War das nicht ein wirklich energischer
Aufruf zum Hinschauen?
Was
hat sie eigentlich gesagt? Sie hat die Frage nach dem „richtigen
Leben“, von Adorno kommend, erneut gestellt, eine Frage, die in
der Philosophie nicht Adornos Erfindung ist, sondern aus der
griechischen Philosophie kommt. Aristoteles hatte für eine
gelingende Lebensführung den Begriff der Eudaimonia.
Aus der Antike stammt auch die Unterscheidung von Leben als bloßer
Subsistenz und als Verwirklichung darüber hinaus in der Polis.
Judith
Butler erinnert uns, wie ich finde sehr eindringlich, dass es wenig
überzeugend ist, unser eigenes Leben für besonders gelungen
oder für ein 'richtiges Leben' zu halten, wenn wir es nur
innerhalb von Verhältnissen führen können, die
andernorts millionenfache Prekarisierung mit sich bringen.
Da
ist sie sicher nicht die erste, die das sagt, aber Recht hat sie.
Also: Sprechen wir über 'richtiges Leben', so haben wir auch
über Macht und Herrschaftsverhältnisse zu reden.
Da
schien sie uns ihre Rede auffällig unbestimmt, denn Macht ist
ein ubiquitärer Begriff, weil jeder
Unterschied Macht begründend wirken kann. Macht
wird
bei
Max Weber
verstanden als die Chance, den eigenen Willen auch
gegen Widerstreben durchzusetzen. Immer beruht sie auf Ungleichheit
in Chancen, Ressourcen,
in sozialen
Verbindungen. Macht
wohnt in Sprache und Ausdruck, in Wissen und Fähigkeiten. Weil
Macht ubiquitär ist, müssten soziale Machtverhältnisse
als Herrschaftsverhältnisse präzisiert werden. Bestimmt
reden kann man über Macht nicht, sondern nur über
institutionalisiert Macht.
Das
tut Butler in ihrer Rede nicht. Sie bleibt hier zu vage, spricht aber
von
„Biopolitik“
als den „das Leben organisierenden Mächte, (...) die Leben
im Rahmen einer umfassenderen Bevölkerungspolitik durch
staatliche und außerstaatliche Maßnahmen auf
unterschiedliche Weise der Prekarität überantworten
und zugleich bestimmte Maßnahmen zur unterscheidenden
Bewertung von Leben festlegen.“ Wer ist hier Ross und Reiter?
Was
ist gemeint, Personen, Institutionen, formale Strukturen? Seit Marx
und heute ohnehin sind wir da eine stärkere Differenzierung
gewohnt.
Aber
jetzt kommt das Neue, was für Butlers Position spezifischer ist:
Sie spricht davon, dass unter den Bedingungen, unter denen wir in der
westlichen Welt zusammenleben, aus Millionen von Menschen
„Unbetrauerbare“
werden.
Sie
weist damit auf zweierlei hin:
a)
faktisch scheint uns die Prekarisierung von Millionen Menschen egal
zu sein, denn sie haben für uns offenbar keinen emotionalen
Wert. Dies, obwohl wir selbst keineswegs sicher sind, nicht auch
demnächst dazu zu gehören.
b)
Emotionen sind keine völlig private, spontane Angelegenheit,
sondern immer etwas sozial Geformtes. So gibt es Orte der Trauer,
z.B. Friedhöfe und ganz unterschiedliche Formen, miteinander
zu trauern, auf Trauer zu reagieren (z.B. ist es nicht erlaubt, am
offenen Grab zu lachen, hinterher beim Traueressen aber schon). Es
gibt Worte für die Trauer, also eine ganze Fülle von
sozialen Voraussetzungen, damit die Trauer eines einzelnen Menschen
überhaupt gelebt und für andere Menschen als Trauer
erkennbar werden kann. „Unbetrauerbarkeit“ heißt
auf dieser Ebene, dass jene – aus meiner Sicht von Butler zu
wenig bestimmten – Herrschaftsverhältnisse, nicht nur
systematisch Millionen Menschen prekarisieren, sondern es uns darüber
hinaus systematisch fast unmöglich machen, etwas dabei zu finden
und in der Kommunikation miteinander zum Thema zu machen. Das
Phänomen ist sicher richtig beschrieben.
Es
müsste uns eigentlich
vielmehr aufregen, warum tut es das nicht?
Und
wie kommen wir eigentlich damit klar, dass es uns nicht aufregt?
Können wir uns morgens noch im Spiegel anschauen?
Butler
fragt offenbar nach einer emotionalen
Verankerung von Moral
und Politik.
Was
wir nicht eingehend genug besprochen haben, war Butlers Begriff des
'entwerteten Lebens', überhaupt ihr Wert-Begriff.
Aber das soll Ansatzpunkt für das nächste Thema werden.
Dazu weiter unten.
Es
gibt eine Reihe stillschweigender Voraussetzungen, die Butler dabei
offenbar macht. Es ist fraglich, ob Herrschaft heute noch
individualisiert ausgeübt wird. Die absolutistischen Herrscher
sind tot. Dazu wieder Max Weber: Kennzeichen moderner Herrschaft sind
die Entindividualisierung
und die Rationalisierung von Macht im „Anstaltsstaat“.
Ich habe im Zusammenhang des heutigen sogenannten 'State-Building'
bei Staaten wie Afghanistan, Süd-Sudan, Bosnien Herzegowina
darauf hingewiesen, dass die Individualisierung von Macht heute eher
ein Zeichen staatlicher Schwäche ist. War Lords und
selbstherrliche Generale haben das Sagen, wo Staaten schwach sind.
Wenn
aber im modernen Staat die Individuen nicht mehr persönliche
Träger von Macht sind, wie lässt sich dann Verantwortung
zuschreiben? Was heißt Verantwortung,
wenn Verantwortung systematisch auf den Rahmen der eigenen
Zuständigkeit beschränkt wird. Für afrikanische
Armutsflüchtlinge wären dann die Grenzpolizei zuständig
und die Entwicklungspolitik und alle anderen hätten den Kopf
frei?
Und
mindestens ebenso schwierig zu beantworten: Wenn etwas verantwortlich
verändert werden müsste, müsste dann nicht zuerst ein
hinreichendes Wissen
über den zu verändernden Gegenstand bestehen? Wie stellen
wir eigentlich sicher, dass wir vom globalen Wirtschaftssystem
überhaupt genug wissen, um es gezielt in eine andere Richtung
steuern zu können? Hier wird die Unbestimmtheit der Butlerschen
Systemaussagen schmerzlich spürbar.
Gibt
es nicht ein echtes Problem des Wissens, bevor sich mit
Verantwortlichkeit argumentieren lässt? Pochen wir nicht
vielleicht nur deshalb auf Verantwortlichkeit, weil wir uns nicht
eingestehen wollen, wie wenig wir über das wissen, worunter wir
leiden und wie wenig wir daher in der Lage sind, es gezielt zu
steuern? (Stichwort: Finanzkrise)
Andererseits
würden wir nicht aus der Pflicht zu handeln entlassen, nur weil
der Handlungsrahmen nicht bestimmt genug ist. Was wir dann allerdings
brauchten, wäre eine Theorie des Handelns unter Unbestimmtheit.
Ungefähr so weit sind wir mit Butlers Rede gekommen.
Nicht
mehr behandeln konnten wir Butlers sehr interessante Begriffe der
wechselseitigen Anerkennung und der Performativität.
Bei
mir bleibt bis hierhin ein zweischneidiger Eindruck von der Rede.
Butler will gerade nicht Verhältnisse individualisieren, die in
Wirklichkeit politische und soziale sind. Aber tut sie das nicht doch
ein Stück weit durch ihre Rückbindung an die Emotion
Trauer?
Andererseits:
Hat sie nicht Recht?
Nichts
drängt dahin, verbessert zu werden, wenn der Wert des Anderen
egal ist.
Ich
fand den Text von Judith Butler ausgesprochen anregend und
kontrovers.
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